Der Alltag in einer Tagesförderstätte
Menschen mit Behinderungen eine Struktur geben
In der Tagesförderstätte am Lindenplatz in Treysa sind acht Menschen mit einer komplexen Beeinträchtigung beschäftigt. Wie ihr Alltag aussieht, was die Arbeit der Mitarbeitenden in einer Tagesförderstätte ausmacht und welche Hürden zu meistern sind, erklärt Arbeitsgruppenleiter Florian Pauli in einem Interview.
Herr Pauli, wie sieht der Alltag für die Klient*innen in einer Tagesförderstätte aus?
Grundsätzlich bieten wir unseren acht Klient*innen eine Tagesstruktur außerhalb ihres Wohnumfeldes von 7.30 bis 16 Uhr. Es gibt ein gemeinsames Frühstück und ein gemeinsames Mittagessen. Ansonsten liegt unser Augenmerk aber auf einer individuellen Betreuung und Förderung - der Arbeitsalltag sieht nicht immer gleich aus.
Dann nennen Sie mal ein Beispiel...
Unsere Klient*innen sind zwischen 18 und 65 Jahren alt, zum Teil auf einen Rollstuhl angewiesen und haben eine komplexe Beeinträchtigung. Für jeden von ihnen haben wir einen Arbeitsplatz eingerichtet. Unser Gruppenraum unterteilt sich in einen Beschäftigungs- und Ruhebereich, sowie eine Küche und einen netten Garten. Und um mal ein Beispiel zu nennen: Einer unserer Klienten ist der 22-jährige Rollstuhlfahrer Lars Liebermann. Er hat eine körperliche und eine geistige Beeinträchtigung. Er tritt sehr gerne in Kontakt mit Menschen und er kann seinen Namen und weitere einzelne Wörter sprechen, was ihn unterscheidet.
Inwiefern?
Wie schon erwähnt, hat jede/r unserer Klient*innen einen eigenen Arbeitsplatz. Lars Liebermann steckt an seinem Arbeitsplatz Schraubendreher zusammen. Sein Arbeitsplatz wurde mit Unterstützung der Mitarbeiter der „Hilfsmittelbau“ der WfbM Ziegenhain eingerichtet, um ihm die Teilhabe am Arbeitsleben zu ermöglichen. In der Mittagspause blättert er gerne in einem Katalog. Zwar sitzt er im Rollstuhl, nimmt seine Umgebung aber sehr bewusst wahr und weiß immer, wo er sich befindet. Wenn er zur Pflege fährt, so kann er den Weg innerhalb unseres Gebäudes auch alleine meistern – und am anderen Ende des Flures empfängt ihn dann eine Pflegefachkraft.
Sie sprechen von Arbeitsplätzen – was ist dann noch der Unterschied zu beispielsweise Arbeiten in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen (WfbM)?
Wir bearbeiten nur kleine Aufträge und stellen auch in geringer Anzahl eigene Produkte her, wie für den Hephata-Weihnachtsmarkt. Ganz klar, wir kümmern uns aber hauptsächlich um die Menschen, für die das Arbeiten in einer WfbM zu anstrengend wäre. In unserer Einrichtung versuchen wir mit Hilfe dieser Arbeiten die motorischen Fähigkeiten unserer Klient*innen zu stärken und dafür zu sorgen, dass sie Erlerntes nicht wieder verlernen. Dazu muss ich anmerken: Bevor Klient*innen nach der Schule zu uns kommen, machen sie in der Regel ein Praktikum bei uns, damit wir schauen können, wo das Potential liegt und wo die Reise hingehen kann.
Das heißt, die Tagesförderstätte ist keine Endstation, sondern ebnet Wege?
Das Ziel ist es natürlich, den Menschen durch individuelle Förderung ein weitestgehend selbstständiges Leben zu ermöglichen. Können die Klient*innen ihr Potential ausschöpfen, so können sie später beispielsweise in dem Berufsbildungsbereich ihre Ausbildung absolvieren und später in einer WfbM arbeiten und Geld verdienen. Aber zu 80 Prozent unterstützen wir die Klient*innen dabei, lebenspraktische Fähigkeiten zu erlernen, die sie Zuhause anwenden können. Aber auch hier gilt eine ganz individuelle Förderung: Wir erstellen mit allen Klient*innen eine Zukunftsplanung.
Was beinhaltet die beispielsweise?
Als Ziele können verschieden Aufgabenbereiche definiert sein, zum Beispiel im Hauswirtschaftsbereich, wie Wäsche falten oder in der Küche beim Teigrühren mitzuhelfen. Dafür gibt es bei uns übrigens passende Hilfsmittel, die jedem die Teilhabe an einer Gemeinschaft ermöglichen können. Außerdem geht es beispielsweise um Esstraining oder Orientierungstraining. Nicht immer werden die Ziele der Zukunftsplanung erreicht und wir müssen die Ziele etwas runterschrauben.
Und wie geschieht das?
Wichtig ist auch Entspannung. Die schaffen wir beispielsweise durch Basale Stimulation und Musik sowie Kreativangebote, wie Basteln. Oder, um noch mal auf Lars Liebermann einzugehen: Bei ihm wenden wir auch computergesteuertes Training an: An einem Tablet trainiert er spielerisch seine Reaktionsfähigkeit oder aber er geht wöchentlich aufs Trampolin. Das sind auch Entspannungsangebote für ihn. Und so gehen wir täglich auf die Bedürfnisse eines jeden und einer jeden ein, um erstens ihre Selbstständigkeit und zweitens ihre Gemeinschaftsfähigkeit zu stärken.
Die Tagesförderstätten der Hephata Diakonie
Innerhalb der Geschäftsbereichs Soziale Teilhabe bilden die Tagesförderstätten eine Abteilung der WfbM mit insgesamt neun Gruppen an sechs Standorten, erklärt Katharina Wagner, Abteilungsleiterin der Tagesförderstätten-Standorte Lindenplatz und Ziegenhain. Der gesetzliche Auftrag der Tagesförderstätten ist es, erwachsene Menschen im erwerbsfähigem Alter, die Aufgrund ihrer Behinderung nicht, noch nicht oder nicht mehr in der Lage sind, in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung tätig zu sein, zu fördern. Die Klienten*innen der Tagesförderstätten können an bewegungs- und wahrnehmungsorientierten Angeboten, wie Spaziergängen, an lebenspraktischen Angeboten, wie Einkäufen, an arbeitsweltbezogenen Angeboten und kreativen Angeboten teilnehmen, sagt Wagner. „Unsere Klienten*innen haben jährlich einen Urlaubsanspruch von 34 Tagen.“ In den Tagesförderstätten arbeiten Fachkräfte mit pädagogischer, heilerziehungs-pflegerischer, heilpädagogischer, therapeutischer und pflegerischer Ausbildung. Die Kosten für die Tagesförderstätten werden vom Landeswohlfahrtsverband Hessen getragen. Das Mittagessen zahlen die Klient*innen im Rahmen des Bundesteilhabegesetzes selbst oder haben die Möglichkeit, diese über das Grundsicherungsamt zu beantragen, erklärt Wagner.